Gegenstand

Laufzeit, Genese und Status Quo

Das Wissenschaftliche Netzwerk »Forschungsfeld Lesen« wurde von 2021-2024 von der DFG in der Förderlinie Wissenschaftliche Netzwerke gefördert. Es basiert auf den Vorarbeiten des von der VW-Stiftung geförderten Symposiums »Dimensionen des Lesens«, das auf der Seite Netzwerk Leseforschung dokumentiert ist.

Die Arbeit des DFG-geförderten Netzwerks ist mit dem Abschluss-Symposium im Juni 2024 beendet worden.

Diese Webseite wird daher nicht weiter aktualisiert.

Weitere Aktivitäten und Forschungsergebnisse zur Leseforschung dokumentiert die Seite des Netzwerks Leseforschung.

Themenbereich und Relevanz

Der Themenbereich des Netzwerks ist die aktuelle Forschung zum Lesen. Lesen als komplexe Kulturtechnik ist ein »soziales Totalphänomen« (Saxer 1995, S. 264 nach Marcel Mauss (“phénomène social total”)), das alle Bereiche moderner Gesellschaften durchdringt und für alle Akteure einer Gesellschaft handlungsrelevant ist: Literale Gesellschaften sind dadurch gekennzeichnet, »dass nicht nur repräsentative Teile der Bevölkerung lesen und schreiben können, sondern dass auch das gesellschaftliche Leben insgesamt durch Formen schriftlicher Kommunikation bestimmt ist« (Günther/Ludwig 1994, S. VIII). Schriftkodierte Zeichen präsentieren sich ubiquitär in allen Lebenslagen und auf allen erdenklichen Oberflächen und Artefakten, von Müslipackungen über Beipackzettel, Speisekarten, Fahrpläne, Produktbeschreibungen, Informationstafeln und Verkehrsschilder, Werbeplakate, Kleidung, E-Mails, WhatsApp-Sprechblasen bis hin zu Blogs, Zeitungen und Büchern. Die Dekodierungstechnik Lesen ist damit basal erforderlich, um Information zu erschließen und an kommunikativen Prozessen jeden Komplexitätsgrades teilhaben zu können. Gleichzeitig wird der Kulturtechnik Lesen und dem Zeichensystem Schrift eine hierarchisch hohe Position im Vergleich mit anderen Kodierungsformen, Wahrnehmungsprozessen und damit verbundenen kommunikativen oder medialen Praktiken, wie ›Bilder gucken‹, ›Töne hören‹ oder gar ›Smartphone daddeln‹, zugeschrieben (Schrift als »Medium par excellence«: Sting 2003, S. 323).

Epistemologische Motivation und zentrales Desiderat

Entsprechend seiner Komplexität ist ›Lesen‹ Untersuchungsgegenstand vieler wissenschaftlicher Disziplinen. Dabei agieren wissenschaftliche Akteure häufig isoliert und greifen Aspekte unabhängig voneinander auf, ohne dass Erkenntnisse zusammengeführt oder bereits im interdisziplinären Diskurs erarbeitet würden (Mangen/Van der Weel 2016). Die disparaten disziplinären Erkenntnisse stehen momentan meistens additiv nebeneinander. Leseforschung ist beispielsweise in den Kognitionswissenschaften, den Neurowissenschaften, der Psychologie, den Kommunikations- und Medienwissenschaften, verschiedenen pädagogischen Disziplinen (z. B. Medienpädagogik, Grundschulpädagogik, Erwachsenenpädagogik), in der Fachdidaktik, den Sozial- und Kulturwissenschaften, der Buchwissenschaft, der Linguistik und den Philologien sowie in historischer Perspektive auch in den Geschichtswissenschaften angesiedelt (im Überblick Parr/Honold 2019; Rautenberg/Schneider 2015). Dementsprechend facettenreich sind die Forschungsinteressen und -ansätze, wenngleich teilgemeinsame Forschungsschwerpunkte identifiziert werden können, wie z. B. das Leseverstehen und der Funktionale Analphabetismus (Grotlüschen/Buddeberg 2020; Christmann 2015).

Der beschriebene Zustand schränkt einerseits die Fachkommunikation ein, da sie sich entweder auf wenige persönliche Kontakte zwischen einzelnen Forschenden reduziert oder von aufwandsreichem Suchen charakterisiert ist. Andererseits steht diese Zerfaserung einer breiten Sichtbarkeit des realweltlich so bedeutsamen Untersuchungsgegenstandes und des Erkenntnisstands im Weg, dieses vor allem auch in der nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Beobachten lässt sich dies sowohl auf nationaler als auch auf internationaler europäischer Ebene. Die 2019 in den Medien viel beachtete Stavanger-Erklärung des E-READ COST Forschungsverbundes war eine der wenigen Ausnahmen einer interdisziplinären Herangehensweise. Eine weitere Ausnahme stellen die im anglofonen Raum seit den 1980er Jahren sich entwickelnden, aber im deutschsprachigen Raum nur wenig wahrgenommenen New Literacy Studies dar, die Literacy als komplexe Assemblage mit soziokulturellen, politischen, hegemonialen und lebenspraktischen Facetten begreifen und interdisziplinär mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen zu durchdringen versuchen (Wilke 2015, S. 29ff. und die dort referierte Literatur). Die wissenschaftlichen Journals sind ebenfalls auf Disziplingruppen fokussiert, wie z. B. das Journal »Scientific Studies of Reading«, das auf das Lese- und Textverständnis fokussiert; die neue Reihe »Wie wir lesen« (Hrsg. Benesch/Klingsöhr) ist auf nur einige Bände beschränkt. Festzustellen ist daher, dass weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene ein ausreichendes Maß an integrierter Leseforschung existiert: Universitäre Zentren sind ebenso wenig vorhanden, wie ein periodisches Publikationsorgan, das der Leseforschung vorbehalten ist, unterschiedliche Perspektiven und Erkenntnisse integriert und als lebendiges Kommunikationsorgan dient. Beides, Forschungszentrum wie Publikationsorgan, wären wichtige Schritte auf dem Weg zur Institutionalisierung einer umfassenden Leseforschung. Sie sollen mit der beantragten Förderung einer wissenschaftlichen Vernetzung ermöglicht werden. Das Netzwerk führt Fachwissenschaftler und –wissenschaftlerinnen zum forschungsorientierten Austausch über Leseforschung zusammen, die sich begriffs- und modelltheoretisch, empirisch sowie hermeneutisch mit der Kulturtechnik Lesen auseinandersetzen.

Stand der Forschung

Der Forschungsstand ist entsprechend der unübersichtlichen Forschungslage und der differenten Zugriffe auf die Kulturtechnik Lesen – exemplarisch z. B. Dehaene 2010 aus der apparategestützten kognitiven Neurowissenschaft vs. Wolf 2018 mit literarisch-kulturpessimistischer Konnotation vs. Spitzer 2012 mit radikaler Ablehnung digital vermittelter Zugänge zu Inhalten – kaum oder nur schwierig zu konturieren. »Da jede wissenschaftliche Community mehr oder weniger exakt oder sachhaltig den Gegenstand Lesen in ihrem Sinn definiert, resultieren aus den Unterschieden im Zugriff unvergleichbare oder unvereinbare Befunde« (Graf 2004, S. 7). Ebenso bezeichnen Kuhn/Rühr den Stand der Lese- und Leserforschung als »Konglomerat verschiedener Theorien und Perspektiven« (2010, S. 560). An diesem Konglomerats-Charakter hat sich bis heute nichts geändert. Entsprechend gibt es nur wenige Werke zur Leseforschung mit dem Anspruch, verschiedene Perspektiven zusammenzuführen. Hierzu gehören Parr/Honold (2019), Rautenberg/Schneider (2015), Franzmann et al. (1999) und Baumgärtner (1973). Die Antragstellerinnen organisieren den Bericht zum Stand der Forschung entsprechend dem unten gewählten Zugriff auf die Workshopthemen in den vier Dimensionen Sachdimension, Zeitdimension, Soziale Dimension und Räumliche Dimension, die Bonfadelli (2015, S. 66) in seinem Vorschlag für eine systemische Analyse des Gegenstands ›Lesen‹ benannt hat. Allen Forschungskontexten liegt allerdings ein grundsätzlich positiv konnotierter Lesebegriff zugrunde. Die Betonung der sozial, kulturell wie auch bildungspolitisch wünschenswerten umfassenden Lesekompetenz ist disziplinenübergreifender Konsens.

Vorarbeiten

Für das Wissenschaftliche Netzwerk sind von den Antragstellerinnen bereits grundlegende Voraussetzungen geschaffen worden: Vom 6. bis 8. November 2019 haben die Antragstellerinnen zusammen mit Simone Ehmig (Stiftung Lesen) eine Expertentagung zum Thema »Dimensionen des Lesens« in Hannover (Schloss Herrenhausen, VW-Stiftung) mit 40 TeilnehmerInnen aus den USA, Australien, Lettland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Indien und Deutschland durchgeführt. Der fruchtbare interdisziplinäre Austausch mündete in die Gründung des Netzwerks Leseforschung als lockerem Verbund, das die Antragstellerinnen koordinieren.

Angestrebtes Ergebnis des Netzwerks

Das übergeordnete Ziel des Netzwerks besteht darin, eine Plattform für eine integrierte Leseforschung zu schaffen. Konkret werden drei Ergebnisse angestrebt:

  1. inhaltlich die verstreute Forschung zu den vier unten genannten Dimensionen der gegenwartsbezogenen Leseforschung zu bündeln. Die Perspektiven innerhalb der vier Dimensionen sollen ausgehend vom operationalen Lesebegriff (modelltheoretischer Zugriff), Zuschreibungen an die Leistungen von Lesemedien (empirischer Zugriff), Lesen als kulturelle Praxis im postliterarischen Zeitalter (hermeneutischer Zugriff) aufgreifen (siehe dazu detailliert die inhaltliche Gestaltung der geplanten Workshops). Das geplante Netzwerk ist strikt interdisziplinär angelegt und berücksichtigt unterschiedliche disziplinäre Zugriffe auf die Kulturtechnik Lesen. Trotz differenzierender Methoden und theoretischer Ansätze zielen die disziplinären Fragestellungen auf ein tieferes Verständnis des Leseprozesses vor dem Hintergrund der Nutzung analoger und digitaler Lesemedien.
  2. Die Leseforschung in Deutschland formal zu institutionalisieren, um zukünftigen Forscher*innen und ihren Arbeiten eine adäquate Kommunikationsplattform zu bieten. Mittelfristig ist daher die Gründung einer wis-senschaftlichen Fachgesellschaft mit Etablierung eines Publikationsorgans geplant. Die Mitglieder der Gesellschaft führen die Interessen der Leserforscher*innen zusammen und garantieren die Arbeitskontinuität des geplanten Netzwerks. Eine digitale Open-Access-Schriftenreihe soll sowohl die inhaltliche Arbeit des Netzwerks transparent macht als auch themenfokussiert anderen Leseforscher*innen offenstehen.
  3. Die Unterstützung Early Career Researcher, für die das Netzwerk einerseits die Möglichkeiten einer Forschungswerkstatt bietet, andererseits durch Kompetenzerwerb in der Konzeption, Durchführung und wissenschaftlichen Organisation von Workshops. Diese Workshops sollen den Early Career Reserachern die Möglichkeit eröffnen, Projekte für Laufbahnschriften zu generieren. Das Netzwerk soll auch denjenigen, die keine uni-versitäre Karriere anstreben, Kompetenzen vermitteln, die in anderen beruflichen Kontexten Vorteile schaffen. Dazu gehört die Öffentlichkeitsarbeit, die im Netzwerk sowohl über traditionelle journalistische Wege aber auch über Social Media Plattformen sowie der Website des Netzwerks verwirklicht werden soll. Denkbar ist als ein netzwerkbegleitendes Format auch an Citizen Science-Projekte zur Schrift im Raum zu denken, das von Nachwuchswissenschaftlern und Nachwuchswissenschaftlerinnen entworfen und durchgeführt werden kann. Die Präsentation der Netzwerkarbeit und ihren Ergebnissen z. B. bei Veranstaltungen wie dem Wissenschaftsmarkt der JGU Mainz kann ebenfalls zur Einübung von wissenschaftsjournalistischen Kompetenzen dienen.

Umsetzung

Das Netzwerk arbeitet in 4 inhaltlich und 2 institutionell orientierten Workshops und veranstaltet ein Abschlusssymposium:

  1. WS Sachdimension und medientechnische Perspektive
  2. WS Zeitdimension und mediale Wandlungsprozesse
  3. WS Sozialdimension und Medienzuwendung
  4. WS Raumdimension und organisatorisch-institutionelle Perspektive
  5. WS Gründung und inhaltliche Konzeption eines digitalen Kommunikationsorgans
  6. WS Gründung einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft
  7. Abschluss-Symposium mit Projektvorstellungen der Early Career Scholars

Zitierte Literatur

  • Baumgärtner, Alfred Clemens (1973) (Hg.): Lesen, ein Handbuch. Lesestoff, Leser und Leseverhalten, Lesewirkungen, Leseerziehung, Lesekultur. Hamburg.
  • Bonfadelli, Heinz (2015): Sozial- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze. In: Ursula Rautenberg und Ute Schneider (Hg.): Lesen – Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin, S. 63-84.
  • Christmann, Ursula (2015): Kognitionspsychologische Ansätze. In: Ursula Rautenberg und Ute Schneider (Hg.): Lesen – Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin, S. 21-45.
  • Dehaene, Stanislas (2010): Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert. München.
  • Franzmann, Bodo; Hasemann, Klaus; Löffler, Dietrich; Schön, Erich (Hg.) (1999): Handbuch Lesen. Unter Mitarbeit von Georg Jäger, Wolfgang R. Langenbucher und Ferdinand Melichar. München.
  • Grotlüschen, Anke; Buddeberg, Klaus (Hg.) (2020): LEO 2018. Leben mit geringer Literalität. Bielefeld.
  • Günther, Hartmut; Ludwig, Otto (Hg.) (2008): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung = Writing and its use : an interdisciplinary handbook of international research. Berlin.
  • Kuhn, Axel; Rühr, Sandra (2010): Stand der modernen Lese- und Leserforschung. In: Ursula Rautenberg (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland. Berlin, S. 535-602.
  • Mangen, Anne; van der Weel, Adrian (2016): The evolution of reading in the age of digitization: an integrative framework for reading research. In: Literacy 50 (3), S. 116–124.
  • Parr, Rolf; Honold, Alexander (Hg.) (2019): Lesen. Berlin, Boston.
  • Rautenberg, Ursula; Schneider, Ute (Hg.) (2015): Lesen – Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin.
  • Saxer, Ulrich (1995): Lesen als Problemlösung. Sieben Thesen. In: Bodo Franzmann, Werner Fröhlich, Hilmar Hoffmann, Balz Spörri und Rolf Zitzlsberger (Hg.): Auf den Schultern von Gutenberg. Medienökologische Perspektiven der Fernsehgesellschaft. Berlin, S. 264–268.
  • Spitzer, Manfred (2012): Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München.
  • Sting, Stephan (2003): Stichwort Literalität – Schriftlichkeit. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 6 (3), S. 317–337.
  • Wilke, Julia (2015): Literacy und geistige Behinderung. Wiesbaden.
  • Wolf, Maryanne; Stoodley, Catherine (2018): Reader, come home. The reading brain in a digital world. New York